Nachruf: Prof. Dr. med. Hans-Joachim Ahrendt

Prof. Dr. med. Hans-Joachim Ahrendt * 27. 06. 1947   + 12. 11. 2015

 

Der Frauenarzt und Sexualmediziner Prof. Dr. med. Hans-Joachim Ahrendt, Leiter der Praxis für Frauenheilkunde, Klinische Forschung und Weiterbildung Magdeburg, war 1990 Gründungsmitglied unserer Gesellschaft und gehörte 10 Jahre dem Vorstand an. Er war an der fachlichen Profilierung und vielen Aktivitäten der jungen Gesellschaft beteiligt, so an 10 Jahrestagungen, die in diesem Zeitraum stattfanden, eine davon organisierte er in Magdeburg 1992. Für mich als Vorsitzenden war Hans-Joachim Ahrendt eine große Unterstützung, fachlich und persönlich, ein Ruhepunkt, ein energischer Mediator, einer auf den man sich auch in kritischen Situationen verlassen konnte, eine Persönlichkeit, die in unnachahmlicher Art schwierige Problem durchschaubar machen und in effektiver Weise meistern konnte.

Der junge Arzt hatte sich frühzeitig sexualwissenschaftlichen Themen zugewandt, in Theorie und Praxis. Er gründete eine „Teenagersprechstunde“, die regen Zuspruch fand – bis zuletzt. Er schrieb einen weitverbreiteten „Ratgeber für junge Mädchen“. Seine Habilarbeit, die Inauguraldissertation zur Erlangung des Dr. sc. med. an der medizinischen Akademie Magdeburg, trägt den Titel „Geschlechtliche Entwicklung, Sexualverhalten und Kontrazeption 15- bis 17jähriger weiblicher Jugendlicher“ und enthält die Ergebnisse eine Befragung von 3471 Jugendlichen, außerdem die Auswertung von 3560 Zyklusanamnesen, 4559 Regelkalendern und Basaltemperaturkurven von 1371 Zyklen. Der umfangreiche Fragebogen mit 375 Indikatoren enthält neben den sexualmedizinischen Details auch die schöne Frage „Lieben Sie Ihren Partner?“ – mit den vier Antwortvorgaben „über alle Maßen“ (40%), „sehr“ (55%), „etwas“ (4%), „nicht“ (1%).

Hans-Joachim Ahrendt sah Sexualität logischerweise in erster Linie sexualmedizinisch. Aber er hatte zugleich ein komplexes, interdisziplinäres Verständnis und sah die Kontexte: die Liebe, die Partnerschaft, die individuellen und überindividuellen Umstände. Auf diese Weise beförderte er Bereicherung und Erweiterung der Sexualmedizin zuungunsten einer fachlichen Beschränktheit oder einer medizinistischen oder biologistischen Denkweise. Für ihn war Sexualität Teil der Persönlichkeit und wie diese gesellschaftlich determiniert. Er hatte ein untrügliches Gefühl für individuelle Nöte und gesellschaftliche Problemlagen, und er wandte sich ihnen unverstellt, konsequent, radikal, progressiv zu.

Seine Habilarbeit zeigt wie alle seine über 100 wissenschaftlichen Publikationen, seine über 700 Vorträge auf wissenschaftlichen Veranstaltungen in aller Welt und seine zahlreichen populären und medialen Aktivitäten und auch seine universitäre Lehrtätigkeit, was Hans-Joachim Ahrendt, den forschenden Arzt, den patientenzugewandten Praktiker, den engagierten Wissenschaftler auszeichnete: Erkenntnisdrang, Sachkompetenz, gründliche Recherche und – Wirkungsmotivation. Er wollte, dass sein Wissen und seine Erfahrung anderen zuteil werden, den Fachkollegen natürlich, aber auch den Patienten, den einfachen Leuten von Anfang an, z. B. in der Jugendzeitschrift „Neues Leben“ zusammen mit seinem Freund, dem Berliner Sexualpädagogen Prof. Rolf Borrmann. In seiner universitären Lehrtätigkeit, die er neben seiner alltäglichen ärztlichen Tätigkeit mit großer Gewissenhaftigkeit betrieb, kam es ihm nicht nur auf Wissensvermittlung an, sondern auch auf die Einbeziehung seiner Studenten in die Forschung. Als engagierten Betreuer von Qualifizierungsarbeiten suchte er den sexualwissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern.

Prof. Ahrendts Forschungsinteresse war weit gespannt. Es reichte von epidemiologischen Studien zur Sexualmedizin über Klinische Studien und Arzneimittelprüfungen bis zum Stellenwert der Sexualität in der gynäkologischen Praxis. Die Jugendsexualität blieb sein Thema ein Leben lang, genauso die hormonale Kontrazeption und die Familienplanung. In den letzten zwei Jahrzehnten kamen das Klimakterium und die Hormonersatztherapie hinzu. Als Frauenarzt nah an den primären Lebensprozessen stehend, hatte er früh erkannt, dass die Frauen über 40 und 50 nicht nur quantitativ bedeutsamer geworden waren, sondern sich auch qualitativ verändert hatten und hohe Ansprüche auch in Bezug auf ihre Sexualität stellten. Der Gynäkologe war sexuellen Fragen seiner Patientinnen nie ausgewichen. Er hatte einen Praxistest und einen Patienten-Kurzfragebogen als Start für ein Gespräch über Sexualität entwickelt und bot nun auch für ältere Patientinnen spezielle Sprechstunden über sexuelle Probleme an. Sein Wissen und die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung „Postmenopause und Sexualität“ sind in zahlreichen gemeinsamen Vorträgen und in dem Band „Last oder Lust“ zusammen geflossen.

Kurz vor seinem Tod ist noch sein Buch „Sexualmedizin in der Gynäkologie“ erschienen. Es ist wie ein Vermächtnis.

Das unermüdliche Engagement von Hans-Joachim Ahrendt für eine interdisziplinäre Sexualwissenschaft, seine Geradlinigkeit und Offenheit, seine Großzügigkeit und seine Kooperationsfähigkeit – sie werden fehlen. Fehlen wird eine große, unverwechselbare, profilierte Persönlichkeit, deren unglaubliche Energie dem Fortgang der Wissenschaft und dem Wohle des Menschen galt. Hans-Joachim Ahrendt ist ein Inbegriff von wissenschaftlich fundierter und praktischer Humanität.

Kurt Starke

 

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