Zum 80. Geburtstag von Kurt Starke: Weder Kinsey noch Freud – wir hatten unsere eigenen Maßstäbe

Weder Kinsey noch Freud – wir hatten unsere eigenen Maßstäbe

Eigentlich leitete Kurt Starke im Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig (ZIJ), dem er von 1967 – 1990 angehörte, die Abteilung Studentenforschung und konzipierte mit seinem Team mehrere große Studien zur Persönlichkeitsentwicklung von Hochschulstudierenden. Sein Lebensthema fand er jedoch schon früh in der Erforschung der Sexualität und Partnerschaft Jugendlicher und Erwachsener. Die 1972 von ihm konzipierten PARTNER-Studien wurden 1980, 1990 und zuletzt im Jahre 2013 erneut durchgeführt und liefern ein beeindruckendes Monitoring sexualkultureller Entwicklung in den Jahrzehnten der sexuellen Liberalisierung.

Die Liste seiner empirischen Forschungen hat Kinsey´sche Dimension, es sind mehr als 40 zumeist quantifizierende Fragebogenstudien, darunter allein 25 zu Liebe und Partnerschaft, Hetero- und Homosexualität, zu Familienplanung, HIV & Aids, Pornografie… Obwohl die amerikanischen Studien in gewisser Weise Vorbild in der Erforschung „normaler“ Sexualität waren, beschritt Kurt Starke bei der Konzipierung der empirischen Sexualforschung in der DDR eigene Wege. Bei Kinsey kam die Liebe nicht vor, im Denken von Starke hingegen waren sexuelles Verhalten und Erleben, Liebe und Lust miteinander verbunden, gehörten Sexualität und Partnerschaft zur Gesamtpersönlichkeit. Und diese wiederum galt es unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen zu erforschen.

In seinem ersten populärwissenschaftlichen Bestseller „Junge Partner“ widmete sich Starke einer Frage, die in der Frühphase der sexuellen Liberalisierung häufig gestellt wurde: Wie ist das, wenn man 15, 16, 17 Jahre ist, noch zur Schule geht, und in diesem Alter schon eine Liebesbeziehung hat? Stört sie beim Lernen, beeinträchtigt Sex den Lernerfolg? Die Befunde von PARTNER I wurden zu einem empirischen Sieg über alle Bedenkenträger. Keine Angst vor frühen Liebesbeziehung einschließlich Sexualität – das war die finale Botschaft. Im Gegenteil: Der Elan der ersten Liebe erwies sich als förderlich für das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung. Wissenschaftlich hieß das: Die Paargruppe im Jugendalter ist eine wichtige Sozialisationsinstanz. Auch das Studieren mit Kind wurde empirisch legitimiert und konnte sich fortan gesellschaftlich durchsetzen.

Kurt Starke unterstützte mit seinen Erkenntnissen reale Emanzipationsprozesse, ohne zu übersehen, dass die Befunde auch theoretisch bedeutsam waren. Sie widerlegten z. B. die Freud´sche Sublimationsthese, wonach es ein partielles Aufsparen sexueller „Triebe“ braucht, um Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Freud wurde in dieser Hinsicht beiseitegelegt.

Im Gegensatz zu manch anderen Sexualforschern war und ist Kurt Starke alles andere als medienscheu: vom MDR (Riverboot) bis VOX (Wa(h)re Liebe), vom Boulevard (Der Orgasmus-Professor spinnt/ BILD 1990) bis zur Tageszeitung neues deutschland (Beiträge zu FKK oder #MeToo in jüngster Zeit). Ihm gelingt es, streitbare Themen mutig anzusprechen, das vermarktungsaffine Thema Sexualität wissenschaftlich zu versachlichen und (wenn nötig), schlüpfrige Journalistenfragen humorvoll zu kontern. Viele sexualwissenschaftliche Kolleg*innen hätte z.B. bei einer Überschrift: „So liebt der Sex-Papst der Ex-DDR“ (Super Illu vom 11.10.1990) die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Kurt Starke antwortete auf die Journalistenfrage „Welche Stellungen bevorzugen Sie?“: „Ich kenne 722 Stellungen, z.B. aus der Erotikbibel Kamasutra. Aber ich praktiziere nur 18. Welche das sind, überlasse ich Ihrer Fantasie.“

1990 wurde Kurt Starke Gründungsvorsitzender der Gesellschaft für Sexualwissenschaft (GSW). Dieses Amt hatte er 10 Jahre lang inne. Die GSW der Gründerjahre vereinte eine kleine, aber interdisziplinäre Gruppe von Forscher*innen und  Praktiker*innen, die sich zu DDR-Zeiten in der Sektion Ehe und Familie der Gesellschaft für Sozialhygiene gefunden hatten.

In der GSW wurden u.a. wendebedingt abgewickelte Forschungen des ZIJ Leipzig fortgeführt, neue initiiert und eingebunden. Bis in die Gegenwart ist Kurt Starke aktiver Forscher, Publizist, Kolumnist, gefragter Interviewpartner und Experte für öffentliche Statements wie für vertrauliche Gutachten geblieben. Sein jüngstes Buch „Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland“ erschien 2017.

Prof. Dr. Kurt Starke ist seit 2003 Ehrenmitglied der GSW. Er wurde 1938 im sächsischen Königshain geboren und wird am 13. Mai 80 Jahre alt.

 

Konrad Weller